"Model R"

Wenn ich an dieser Stelle schreiben würde, daß ich meinen John Deere "Model R" ganz zufällig in einer verfallenen Scheune eines alten Ammerländer Bauern fand, so würde ich lügen. Der Scheunenfund eines solchen Schleppers ist hierzulande schlichtweg unmöglich. Ganz einfach aus dem Grund, weil der amerikanische Hersteller John Deere bis zu Beginn der 1960er Jahre in Deutschland noch gar nicht präsent war.

Der Ursprung des Weltkonzerns John Deere geht bis in das Jahr 1837 zurück, als der Schmied John Deere in Grand Detour (Illinois) seinen ersten Pflug entwickelte. John Deeres Produkte waren von höchster Qualität und genossen in den gesamten USA einen hervorragenden Ruf. Das Geschäft florierte. Die Aktiengesellschaft John Deere übernahm 1918 den Traktorenhersteller Waterloo Gasoline Engine Company und stieg so in den rasant wachsenden amerikanischen Traktorenmarkt ein. Im Jahre 1956, inzwischen zu einem Weltkonzern herangewachsen, gelang es John Deere durch die Übernahme der zunehmend kränkelnden Heinrich Lanz AG in Deutschland Fuß zu fassen.

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Bis dahin hatte John Deere in Moline (Illinois) schon viele hundert Tausend Traktoren hergestellt und in viele Teile der Welt geliefert. Charakteristisch für alle John Deere-Schlepper von 1918 bis zu Beginn der 1960er Jahre war ein großvolumiger, liegender Zweizylinder-Vergasermotor. Aufgrund des in den USA in Unmengen verfügbaren und damit spottbilligen Benzins bzw. Kerosins gab es über fast vier Jahrzehnte keinerlei Grund, an die Entwicklung eines erheblich wirtschaftlicheren Dieselmotors zu denken. In Europa, vor allem aber in Deutschland, war Benzin schon seit jeher wesentlich teurer. Die wenigen ausländischen Hersteller, namentlich Ferguson und IHC-McCormick, hatten folglich mit ihren benzingetriebenen Schleppern wenig Erfolg auf deutschem Boden.

Der Leistungsbedarf der amerikanischen Farmer war seit je her groß, da im Vergleich zu Europa viel größere Flächen zu bearbeiten bzw. urbar zu machen waren. Das 1925 von John Deere vorgestellte und bis 1953 gebaute Erfolgsmodell "D" besaß beispielsweise einen Hubraum von gigantischen 8,2 Litern- aufgeteilt auf zwei Zylinder, wohlgemerkt. Der Vergasermotor leistete knappe 40 PS. Lange Zeit war der "D" der größte John Deere, bis die Nachfrage nach einem noch stärkeren Schlepper Ende der 1940er Jahre den Hersteller unter Druck setzte. Ein noch größerer Vergasermotor schien kaum realisierbar, verbrauchte das "Model D" doch schon reichliche 16,3 Liter Benzin pro Stunde. In der amerikanischen Landwirtschaft wurden zunehmend Rufe nach einem noch leistungsstärkeren, aber dennoch wirtschaftlichen Antrieb laut. John Deere sah sich gezwungen, in den sauren Apfel zu beißen und erstmals einen Dieselmotor zu entwickeln. Bis dahin schlichtweg undenkbar!

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1949 war es dann soweit. John Deere präsentierte dem staunenden Publikum seinen allerersten Schlepper mit Dieselmotor. Obwohl eine radikale Neuentwicklung, entsprach der John Deere "R" in vielen Punkten seinen benzingetrieben Vorgängern. Auch der "R" war schon von weitem anhand seines liegenden Zweizylinder-Motors, dem großen außenliegenden Schwungrad auf der linken und der breiten Riemenscheibe auf der rechten Seite als echter "Johnny Popper" erkennbar.

Der neue Dieselmotor hatte es in sich. Fortschrittlich nach dem Direkteinspritzverfahren arbeitend, leistete er bei einem riesigen Hubraum von knapp sieben Litern und maximal 1.000 Umdrehungen pro Minute überzeugende 50 PS. Und das bei einem Kraftstoffverbrauch von gerade einmal 9,5 Litern pro Stunde! Traditionell wurde auch bei diesem Modell auf Leichtbau verzichtet, um durch maximalen Bodendruck möglichst hohe Zugleistungen erzielen zu können. So bringt der John Deere "R" gut und gerne 3,8 Tonnen Lebendgewicht auf die Waage, bei großzügiger Bestückung mit Radgewichten sind die 4,5 Tonnen schnell erreicht. John Deere brüstete sich bei der Vorstellung des "Model R" damit, den größten Traktor der Welt entwickelt zu haben. Ein noch größerer Schlepper sei nicht realisierbar, wer eine größere Zugkraft benötige, wird sich einen Raupenschlepper kaufen müssen, verkündete John Deere damals.   

               

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Diese neue "Größe" hatte aber auch Nachteile. Beispielsweise fand sich bei der Entwicklung des großen Zweizylinder-Dieselmotors kein Hersteller, der einen ausreichend starken elektrischen Anlasser im Angebot hatte. Was tun? An ein Anlassen per Hand war nicht zu denken, da schlichtweg unmöglich. Die Lösung fand sich beim Raupen- und Baumaschinenhersteller Caterpillar. Dort setzte man schon seit der Vorkriegszeit erfolgreich sogenannte "Pony-Motoren" ein. Das sind kleine Benzinmotoren, die nach einer gewissen Warmlaufzeit den großen "Hauptmotor" anlassen.  Bei John Deere entschied man sich für einen 400 cm³ großen, benzingetriebenen Zweizylinder-Viertakt-Boxermotor, der dem großen Dieselmotor als Anlasser zur Seite gestellt wurde. Genauer gesagt wurde der Pony-Motor einfach auf den Dieselmotor "draufgepackt". Ein ausgeklügeltes System von Rohrleitungen sorgt dafür, daß die Auspuffgase des Ponymotors den Ansaugtrakt des Dieselmotors vorwärmen. Sogar durch den Kühlwasserkreislauf sind die beiden Motoren miteinander verbunden. Dieses Prinzip setzte sich damals durch, denn als das "Model R" im Jahre 1954 vom fast baugleichen "Model 80" abgelöst wurde, hatte John Deere fast 22.000 Exemplare gebaut. Der Dieselmotor war von nun an aus der Modellpalette nicht mehr wegzudenken.

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Auch sonst bietet der John Deere "R" einige für uns Europäer besondere Raffinessen. Zunächst ist die Bedienung der Motorkupplung zu erwähnen. Grundlegend anders als bei europäischen Traktoren wird sie (wie bei fast allen John Deeres bis Baujahr 1959) vom Fahrer mit der rechten Hand bedient. Es gibt kein Kupplungs-Fußpedal, sondern lediglich einen einzelnen langen Hebel. Da es zudem auch kein Gaspedal, sondern nur einen Handgashebel gibt, kann man sich lebhaft vorstellen, daß ein Hoch- oder Runterschalten im klassischen Sinn nicht möglich ist. Wer hat schon drei Arme? Der Fahrer legt einfach den gewünschten Gang ein, gibt ordentlich Gas und rückt dann langsam mit dem Handhebel die Kupplung ein. Bocksprünge in den großen Gängen inklusive...

               

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Ebenfalls unüblich ist die Bremsanlage. Die vom deutschen TÜV geforderte kombinierte Betätigung der beiden Hinterradbremsen ist dem Schwermetall aus Moline unbekannt. Es gibt zwei kleine Bremspedale. Eins links, für das linke Hinterrad, und eins auf der rechten Seite, welches eben für das rechte Hinterrad zuständig ist. Diese Bremsen sind als reine Lenkbremsen für den Acker konzipiert und nicht dazu gedacht, den über vier Tonnen schweren Schlepper aus voller Fahrt abzubremsen. Immerhin lassen sich die beiden Lenkbremsen arretieren, was der Funktion einer Handbremse gleichkommt (diese besitzt der John Deere "R" ebenfalls nicht). Im deutschen Straßenverkehr ist somit ein vorausschauendes Fahren angebracht...

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Doch zurück zum Anfang: Wie kommt man an einen alten, amerikanischen Schlepper, der niemals hierzulande angeboten wurde? Das ist mittlerweile recht einfach, denn einige wenige Händler, vornehmlich in den Niederlanden und Belgien, haben sich auf den Import und den Verkauf von amerikanischen Oldtimertraktoren spezialisiert.  In Zeiten, in denen schrottreife Reste von Lanz Bulldogs aus Australien und Südafrika zurück nach Deutschland geschifft werden, liegt der Import von alten Schleppern "Made in U.S.A." eben nah. Und möchte nicht jeder Oldtimersammler etwas haben, was nicht jeder hat? Genau. 

Die außergewöhnliche Startprozedur mittels "Ponymotor" möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:

Der folgende Film zeigt den laufenden John Deere im Detail: